Download Deutschland 2.0. Eine vorläufige Bilanz der Einheit by Claus Christian Malzahn PDF
By Claus Christian Malzahn
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Bis dahin muss er seine Wohnung übergeben und zur ordnungsgemäßen Genehmigung des »Visums für einmalige Ausreise« noch zwei Passbilder beibringen. Seit drei Jahren schon hat er versucht, die DDR auf legale Weise zu verlassen. Das System nimmt ihm die Luft zum Atmen. Er darf nicht laut sagen, was er denkt, nicht lesen, was er möchte, nicht reisen, wohin er will. Wenn er abends weggeht, wird er im Restaurant platziert, wenn er wählen geht, wird seine Stimme unterschlagen, wenn er im HO-Markt nach exotischen Waren wie Salami fragt, heißt es: Hamwanich.
Ich habe als Korrespondent des ›Spiegel‹ um die Jahrtausendwende in Polen erlebt, wie hart das vor allem ältere Menschen getroffen hat. Mitte des Monats war ihre karge Pension aufgebraucht, viele Rentner ließen beim Lebensmittelhändler anschreiben und ernährten sich bis zur nächsten Überweisung von Brot und Speck. Ich bin in Polen stundenlang durch Regionen gefahren, in denen es so gut wie keine Frauen unter dreißig mehr gab. Sie heirateten lieber in der Stadt – oder im Ausland. Die jungen Bauern blieben zurück, ohne die leiseste Aussicht auf eine wirtschaftliche Perspektive.
Die allgemeine politische und wirtschaftliche Situation hielten dieselben Leute dagegen für bedenklich bis gefährlich. In der DDR gab es also eine Schere im Kopf, im neuen Deutschland klafften die individuelle und die öffentliche Wahrnehmung auseinander. Das erklärt vielleicht auch, warum die DDR heute oft »gefährlich verharmlost« wird, wie die ehemalige Bürgerrechtlerin Marianne Birthler immer wieder betont. Nicht nur diese scharfsinnige Analytikerin deutsch-deutscher Befindlichkeiten beklagt ein merkwürdiges Phänomen: Je länger der von Walter Ulbricht gegründete und von Erich Honecker gegen die Wand gefahrene Staat zurückliegt, desto stärker scheinen im Bewusstsein vieler Deutscher jene Verzweiflung und jenes Aufbegehren des Sommers 1989 verdrängt zu werden.